Inhalt: #13 – Frühjahr 2010
KLAUS LANG
HÖCHSTE MUSIK IST ABWESENHEIT DER MUSIK
DIETER MACK
GEDANKEN, VORSCHLÄGE, VERWERFUNGEN ZUM BEGRIFF DES TRANSKULTURELLEN - UND WAS MACHT DAS GESCHICHTSBEWUSSTSEIN?
MICHAEL PISARO
A FEW STATEMENTS ABOUT COMPOSITION
MICHAEL REUDENBACH
VOM UMKEHREN
HANNES SEIDL
NEU - ÜBER DIE ÖKONOMIE NEUER MUSIK
ERNSTALBRECHT STIEBLER
DAS KAMEL UND DAS NADELÖHR
RENÉ WOHLHAUSER
DER NOTWENDIGE ANACHRONISMUS DER KUNST
Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.
(Pascal, Pensées)1. Nachdenken
Die Frage nach dem „Unendlichen“ ist eine der Grundfragen der Menschheit zu allen Zeiten in allen Kulturen. Ich versuche anhand von Gedanken aus der westlichen und der östlichen Tradition dieser Frage nachzuspüren. Nach einer klassischen Definition von Boethius, die den Begriff der Ewigkeit als philosophischen Begriff zu bestimmen versucht, ist der zweite Teil einer Untersuchung gewidmet, welche Versuche möglich sind, „Unendliches“ als Erfahrung zu beschreiben. Der dritte Teil versucht die Konsequenzen für das historische und gegenwärtige Komponieren zu zeigen.
a – MetaphysikAls Ausgangs- und Anknüpfungspunkt seien folgende zwei Zitate aus Boethius’ Trost der Philosophie vorangestellt: „Alles, was erkannt wird, wird erfasst nicht nach seiner eigenen Kraft, sondern vielmehr nach der Fähigkeit der Erkennenden.“ „Jedoch: wenn man göttliche und menschliche Gegenwart vergleichen darf, so sieht jener, wie ihr in eurer zeitlichen Gegenwart manches seht, alles in seiner ewigen. [...] Wie ihr, wenn ihr zugleich einen Menschen auf der Erde wandeln und die Sonne am Himmel aufgehen seht, wenn auch beide Anblicke zugleich, so sie doch unterscheidet und urteilt, dies sei freiwillig, jenes notwendig. So verwirrt also der alles klärende Blick Gottes keineswegs die Beschaffenheit der Dinge, die bei ihm gegenwärtig sind, unter der Bedingung der Zeit aber zukünftig.“ Höchste Musik ist Abwesenheit der Musik. Das Zitat öffnet natürlich einen viel größeren Raum, als den, mit dem ich mich hier befassen kann. Ich möchte mich beschränken auf die Sicht, die Boethius auf das Gegensatzpaar Zeit und Ewigkeit hat. Der für meine Überlegungen wichtigste Aspekt ist die Feststellung, dass Zeitlichkeit eine für den Menschen typische Anschauungsweise der Wirklichkeit ist. Die von der Zeitlichkeit abhängenden Denkformen der Kausalität und Finalität sind ebenfalls vom menschlichen Denken geschaffene Konstrukte, die einerseits eben diese „Zeitlichkeit“ bedingen (oder von Zeitlichkeit abhängen), sie andererseits aber erst herstellen und etablieren. Was sehen wir als Zeitlichkeit: eben das Hintereinander, das Gegenwärtige, das Zukünftige und das Vergangene. Davon ausgehend können wir Zeitlosigkeit oder Ewigkeit definieren als das Zusammenfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen Punkt, in ein absolutes „Jetzt“. Wichtig ist es mir anzumerken, dass wir, wenn wir in dieser Weise von „Ewigkeit“ oder „Unendlichkeit“ sprechen, uns nicht im Bereich dessen befinden, was wir durch unsere Sinne erfahren können, sondern im Reich metaphysischer Begriffskonstruktion. Der Begriff „Ewigkeit“ wird zudem nur negativ definiert: Es wird nicht gesagt, was „Ewigkeit“ ist, sondern es wird vom Gegenteil von „Ewigkeit“, nämlich der „Zeit“, auf „Ewigkeit“ geschlossen, diese also von außen begrenzt.
b – Empirie
[...] wir aber fragen weiter gar nichts als: „Was meinst du eigentlich?“ Jedem, wer es auch sein mag, und wovon er auch sprechen mag, stellen wir dieFrage: „Was ist der Sinn deiner Rede?“ Was meinen wir nun, wenn wir vom „Ewigen“ oder vom „Unendlichen“ sprechen? Der Begriff „Unendlich“ scheint klar und geläufig zu sein (wir kennen ihn auch aus den Naturwissenschaften), aber Unendliches ist nicht empirisch erfahrbar, es bleibt eine metaphysische Begriffs-Konstruktion, für die Boethius’ Gedanken als ein Beispiel gedient hat. Wenn wir den Begriff genauer untersuchen, knickt er sozusagen ein, und es verwandelt sich das, was er meint, in ein Gefühl, eine Ahnung oder, wie Pascal es formuliert, in ein Schaudern ... Die unendlichen Weiten des Universums lassen uns schaudern, nicht weil wir sie als ewige Unendlichkeit wahrnehmen und begreifen könnten: Wenn wir uns in das Betrachten des Sternenhimmels, der gewaltigen Gebirgsmassive oder einer Messe von Palestrina vertiefen, überkommt uns dieses Schaudern, das mit einem langsamen Entgleiten in etwas einhergeht, das Robert Musil den „anderen Zustand“ oder Kitaro Nishida die „reine Erfahrung“ nennt. Ist nun nicht gerade dieser „andere Zustand“ dasjenige, das wir meinen, wenn wir vom „Unendlichen“ sprechen, und um welche innere Erfahrung handelt es sich dabei eigentlich?
b.1 – Musil
Robert Musil beschreibt die Vorgänge beim Betrachten einer Kuhherde folgendermaßen: Das Gewöhnliche ist, dass uns eine Herde nichts bedeutet als weidendes Rindfleisch. Oder sie ist ein malerischer Gegenstand mit Hintergrund. Oder man nimmt überhaupt kaum Kenntnis von ihr. Rinderherden an Gebirgswegen gehören zu den Gebirgswegen, und was man in ihrem Anblick erlebt, würde man erst merken, wenn an ihrer Stelle eine elektrische Normaluhr oder ein Zinshaus dastünde. Ansonsten überlegt man, ob man aufstehn oder sitzenbleiben soll; man findet die Fliegen lästig, von denen die Herde umschwärmt wird; man sieht nach, ob ein Stier unter ihr ist; man überlegt, wo der Weg weiterführt: das sind unzählige kleine Absichten, Sorgen, Berechnungen und Erkenntnisse, und sie bilden gleichsam das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf –“ „Und plötzlich zerreißt das Papier!“ fiel Agathe ein. […]
Excerpt from Klaus Lang: Höchste Musik ist Abwesenheit von Musik
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